(PN) 27.10.2017 – Ein 21jähriger Palästinenser ist von israelischen Soldaten im Flüchtlingscamp a-Duheisheh, in Bethlehem in der Westbank, ohne Grund während einer Festnahmeaktion so schwer beschossen worden, dass er einen Monat später seinen Verletzungen erlegen ist. Das teilte die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem mit. Der schwere Vorfall ereignete sich bereits am 9. August in der Nacht. Der junge Mann, Raed Salhi, starb in einem israelischen Krankenhaus, in das er von den Soldaten zwangsverbracht worden war. Ein zweiter Palästinenser, der 24jährige Aziz Arafah, wurde ebenfalls beschossen und liegt noch immer in einem Krankenhaus in Israel.

Begonnen hatte es mit einer Razzia der israelischen Armee im Flüchtlingscamp a-Duheisheh zwischen drei und vier Uhr in der Früh. Der Bruder von Raed Salhi hatte über Facebook von der bevorstehenden Aktion erfahren und weckte seinen jüngeren Bruder. Als Raed Salhi, der unbewaffnet war, versuchte, über eine gut zwei Meter hohe Mauer im Hinterhof zu klettern, eröffneten Soldaten ohne Vorwarnung und Anlass das Feuer auf ihn. Raed fiel auf der anderen Seite der Mauer hinunter und blieb schwer verletzt in einer Gasse liegen. Als sein Bruder Muhammad versuchte, ihm zu helfen, wurde er ebenfalls von den Soldaten beschossen und musste sich zurückziehen.
Nachdem verzweifelte Rufe von Raed, er sterbe, von der Familie gehört wurden, kletterte der älteste Bruder Bassam auf die Mauer, aber wurde ebenfalls beschossen und fiel hinunter. Erst, als die Soldaten sich etwas zurückzogen, wagte er es, über das Dach eines Nebengebäudes zu Raed hinunter in die Gasse zu klettern. Raed bewegte sich noch und war bei Bewusstsein. Bassam bemühte sich, seinen schwerverletzten Bruder zu bergen, doch schon nach 100 Metern musste er aufgeben, weil die Soldaten zurückkehrten und ihn bedrohten. Vom Dach des Nebengebäudes beobachtete er, wie Raed aufhörte sich zu bewegen. Erst 40 Minuten später, so Nachbarn, die das Geschehen beobachtet hatten, ließen die Soldaten eine Ambulanz zu dem Schwerverletzten.
Die Familie erfuhr von der israelischen Armee nicht, wohin Raed gebracht worden war. Erst durch einen Hinweis einer palästinensischen Gefangenenhilfsorganisation hörten sie, dass Raed im Hadassah Ein Kerem Krankenhaus in Jerusalem lag.
Mutter durfte ihren schwerverletzten Sohn nicht sehen
Nach Angaben der Mutter von Raed gegenüber B’Tselem, versuchte sie gemeinsam mit ihrem Mann am 13. August ihren Sohn im Krankenhaus zu besuchen. Zwei Soldaten waren in seinem Zimmer positioniert und die Krankenschwester, so die Mutter, zog sofort den Vorhang vor dem Bett ihres Sohnes zu, so dass sie ihn nicht zu sehen bekamen. Die Eltern mussten unverrichteter Dinge nach Bethlehem zurückkehren.
Drei Tage später versuchten die Eltern es nochmals. Sie passierten den Kontrollpunkt 300 der israelischen Armee und erreichten das Krankenhaus. Wieder standen zwei Soldaten im Krankenzimmer. Der Anblick ihres Sohnes, so die Mutter, war schockierend. Raed war ohne Bewusstsein und an eine Beatmungsmaschine angeschlossen. Ein Schlauch führte in seinen Hals und ein weiterer in seinen Bauch. Nach einigen Minuten tauchte ein Arzt auf, der sehr verärgert reagierte, dass die Eltern bei ihrem Sohn waren. Er rief den Sicherheitsdienst und die Eltern mussten fluchtartig das Krankenhaus verlassen.
Ungefähr eine Woche später, so die Mutter, versuchte sie nochmals, zu ihrem Sohn zu gelangen. Doch diesmal wurde ihr am Kontrollpunkt 300 von den Soldaten die Einreise nach Israel verweigert. Unter Tränen versuchte sie, die Soldaten davon zu überzeugen, dass sie ihren Sohn im Krankenhaus besuchen müsste, aber die Soldaten ließen sich nicht darauf ein und wiesen sie an, nach Hause zu gehen. Zwei Stunden lang wartete die Mutter von Raed am Kontrollpunkt, in der Hoffnung doch noch durchgelassen zu werden, dann gab sie auf.
Am 3. September 2017 erhielt die Familie einen Anruf aus dem Krankenhaus, dass ihr Sohn Raed gestorben sei. Die Familie durfte ihn vor seinem Tod nicht mehr sehen.
Fünf Tage lang verweigerte Israel die Herausgabe der Leiche an die Familie im Bewusstsein, dass nach muslimischer Tradition die Beerdigung unverzüglich am Tag nach dem Tod hätte erfolgen müssen. Erst als die palästinensische Gefängnisbehörde den Fall offiziell vor den israelischen Gerichtshof brachte, erklärte sich Israel bereit, die Leiche endlich freizugeben.
Doch damit nicht genug. Nur eine Woche, nachdem Raed beschossen wurde, holte die Armee seinen Bruder ab. Er erhielt eine viermonatige administrative Haftstrafe. Ein Gerichtsverfahren fand nicht statt.
Israelische Armee verstieß gegen geltendes Recht
B’Tselem weist darauf hin, dass die Beschießung des 21jährigen Palästinenser ohne rechtfertigenden Grund erfolgte und in vielerlei Hinsicht gegen geltendes Recht verstieß. Raed war auf der Flucht vor den Soldaten, stellte also für diese absolut keine Gefahr dar. Außerdem waren viele der Schüsse, die man auf den jungen Mann abgab, auf den Oberkörper gerichtet, was gegen die Vorschriften der israelischen Armee verstößt. Auch der Beschuss des Bruders, als dieser versuchte, dem verletzten Raed beizustehen und erste Hilfe zu leisten, stellte eine Rechtsverletzung dar. Hinzu kommt, dass die Armee der Familie nicht sagte, in welchem Krankenhaus sich der Sohn befand, und diesen, obwohl er ohne Bewusstsein war, von zwei Soldaten bewachen ließen. Als die Eltern versuchten, ihn im Krankenhaus zu besuchen, verhinderte das medizinische Personal dies, und die Ärzte verweigerten Auskünfte über seinen Zustand und die stattfindende Behandlung.
Abschließend merkt B’Tselem in ihrem Bericht an, dass, wie oft in solchen Fällen, wenn von der Armee ein Palästinenser verletzt oder getötet wurde, die israelischen Sicherheitskräfte sofort die Familie ins Visier nahmen, in diesem Fall der Mutter die Einreise nach Israel zum Besuch des schwerverletzten Sohnes verweigerten und den Bruder ohne Gerichtsverfahren in Präventivhaft nahmen.
B’Tselem erklärt, dass alle seit über zwei Jahrzehnten unternommenen Versuche der Organisation, Soldaten für solche Taten zur Verantwortung zu ziehen, an der Blockade der israelischen Militärbehörde gescheitert sind. In den meisten Fällen wurde keine Untersuchungen eingeleitet. In den wenigen Fällen einer Untersuchung endeten diese ohne Konsequenzen für die Täter. B’Tselem fordert weiterhin von der Militärbehörde Israels Rechenschaft für derart tödliche Übergriffe auf junge Palästinenser, für die es nachweislich keine rechtfertigenden Umstände gab.