(PN) 01.03.2018 – Vor einer Woche kam bei nächtlichen Razzien der israelischen Armee in Jericho in der Westbank, der 33jährige Palästinenser Yasin Omar Saradeeh ums Leben. Die israelische Armee lieferte immer wieder neue Versionen, woran der Mann gestorben sei, besserte dann nach, wenn diese mit Fakten widerlegt wurden. Eine Verantwortung übernahm man gleichwohl nicht. Nun haben neue Videos gezeigt, wie der Mann durch die israelischen Soldaten starb. Und dass die Soldaten ihn schwer misshandelten.

Der Vorfall ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 22. Februar. Rund 20 israelische Soldaten führten eine nächtliche Razzia in Jericho durch, was den Zorn zahlreicher Jugendlicher auslöste, die begannen, mit Steinen zu werfen. Die Soldaten positionierten sich schwerbewaffnet entlang einer Ladenzeile und versteckten sich dabei in einer kleinen Seitengasse. Der 33jährige Yasin Omar Saradeeh stürmte kurz nach 2 Uhr früh auf sie zu – und wurde seiner Familie zwei Stunden später als tot gemeldet. Die Armee gab an, er sei an zu viel Tränengas erstickt. Außerdem behauptete die Armeeführung, der Mann habe die Soldaten mit einem Messer angegriffen und versucht ihre Waffen zu stehlen. Man habe ihn noch vor Ort medizinisch versorgt.
Doch dann tauchte ein Video einer Überwachungskamera der Ladenzeile auf, auf dem von diesem Hergang nichts zu sehen war. Weder war der Einsatz von Tränengas, noch eine Attacke mit einem Messer oder der Versuch, Waffen zu stehlen zu erkennen. Zu sehen war stattdessen in schlechter Qualität, wie der Palästinenser mit einer Art Eisenstange mit befestigtem Reifen die Ladenzeile entlang lief und von israelischen Soldaten, die aus der Seitengasse heraustürzten, sofort beschossen wurde und zu Boden ging. Anschließend traten die Soldaten nach dem am Boden liegenden Mann, der um Gnade flehte, ohne erhört zu werden. Kurz darauf schleppten die Soldaten den noch lebenden Mann in die Seitengasse und außer Sicht. Von medizinischer Versorgung war nichts zu sehen.
Die Armee änderte daraufhin ihre Erklärung und sprach nun von einem „Terroristen“, der die Soldaten mit einer Eisenstange angegriffen habe. Man habe ihn mit Schusswaffeneinsatz außer Gefecht setzen können und bei ihm ein Messer gefunden. Dann habe man ihn vom Ort evakuiert, damit er medizinisch versorgt werden könne. Später habe man nur den Tod feststellen können. Weitere Stunden später hieß es aus Armeekreisen, dass zwar geschossen worden sei, aber nicht auf den Mann direkt. Man habe keine Schussverletzungen an ihm gefunden.
Auch diese Erklärung konnte nicht aufrechterhalten werden. Noch am Tag des Vorfalls ließ die Familie des Toten eine Obduktion vornehmen, die ergab, dass dem 33jährigen mit scharfer Munition aus nächster Nähe in den Unterleib geschossen worden war. Die Kugel war von vorne im unteren Unterleib eingetreten, hatte eine Ruptur von Arterien und Venen und interne Blutungen verursacht und war hinten aus dem Körper wieder ausgetreten. Außerdem ergab die Obduktion einen Beckenbruch und Hämatome am Kopf, der Brust, am Nacken und den Schultern.
Trotz dieses Ergebnisses blieb die israelische Armee bei ihrer Behauptung, die behandelnden Mediziner hätten keine Schussverletzung feststellen können.
B’Tselem legt neue Videoaufnahmen als Beweismittel vor
Nun hat die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem neue Videoaufnahmen verschiedener Überwachungskameras in höher auflösender Qualität vorgelegt, die in einer Aufzeichnungszeit von über eineinhalb Stunden sowohl in der Ladenzeile als auch in der Seitengasse zeigen, wie die israelischen Soldaten mit dem 33jährigen Palästinenser umgegangen sind.
Danach war Saradeeh tatsächlich mit einer Art Eisenstange mit Reifen, möglicherweise auch einer Art Barhocker, in Richtung Soldaten gerannt und sofort bei Erreichen der Seitengasse von einem Soldaten direkt in den Unterleib geschossen worden. Im Video ist das Mündungsfeuer deutlich zu sehen. Sofort eilten drei weitere Soldaten aus der Seitengasse hinzu und alle vier begannen, den verletzten Mann am Boden mit Tritten zu malträtieren. Anschließend schlugen Sie mit ihren Gewehren auf ihn ein und schleppten ihn dann in die Seitengasse und außer Sicht der Kamera.
Doch die weiteren Videoaufnahmen aus der Seitengasse zeigen nun auch, wie die Soldaten dort weiter verfuhren. Mit dem Gesicht nach unten zerrten sie den schwerverletzten Mann über den Boden der Seitengasse, hielten an, richteten den Strahl einer Taschenlampe auf ihn und traten ihn. Dann zerrten sie ihn weiter außerhalb des Aufnahmewinkels der Kamera. Eine medizinische Versorgung fand zu keinem Zeitpunkt statt.
Ungefähr fünfzehn Minuten später sieht man auf dem Überwachungsvideo die Soldaten erneut, wie sie nun den leblosen Körper wieder in die entgegengesetzte Richtung zur Ladenzeile hin schleppen. Dort angekommen übernimmt erneut die erste Videokamera die Aufnahme und zeigt, wie die Soldaten den Mann erst auf die Straße, dann wieder zurückschleppen und zu guter Letzt in einen vorfahrenden Militärjeep hieven, der mit ihm davonfährt.
B’Tselem zeigt sich entsetzt über „diesen besonders schweren Vorfall. Die Soldaten traten gewalttätig gegen einen schwerverletzten und am Boden liegenden Mann, schlugen ihn mit ihren Gewehren auf den Kopf, den Oberkörper und den Unterleib. Dann schleiften sie ihn in eine Seitengasse, als sei er kein menschliches Wesen, und versagten ihm für mehr als 30 Minuten dringend erforderliche medizinische Hilfe.“
Vor diesem Hintergrund bewertet die israelische Menschenrechtsorganisation die Versuche des Armeesprechers, den Vorfall mit unterschiedlichen Ausreden abzutun, als ebenso bestürzend, wie das Schweigen militärisch Verantwortlicher. Die Tatsache, dass eine klare Aussage der Armeeführung fehle, dass ein solches Verhalten von Soldaten nicht toleriert wird, so B’Tselem, billige praktisch derartige Vorgänge und erlaube damit, dass sich solche in der Zukunft wiederholten.
Die Armee hat nun erklärt, die Militärpolizei würde den Vorfall untersuchen. B’Tselem hält dies nach all ihren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte für eine Schutzbehauptung, die lediglich den Eindruck erwecken solle, man nehme die Sache ernst. „Auf der Basis von jahrelanger Erfahrung ist davon auszugehen, dass die Untersuchung zu keinen Konsequenzen für irgendjemanden führen wird, der für den Tod und die Misshandlung von Saradeeh verantwortlich ist – schon gar nicht in den höheren Rängen,“ konstatiert die israelische Menschenrechtsorganisation in ihrem Bericht bitter.