Gastbeitrag von Fadi O. Al-Naji
02.05.2018

Was bringt die palästinensische Jugend von Gaza dazu, an der Grenze zu demonstrieren, trotz Israels Vergeltung (wie üblich) mit Scharfschützen, explodierenden Kugeln und einem Tränengas, das Krämpfe auslöst? Warum besteht sie darauf, Widerstand zu leisten, obwohl es eine geradezu aberwitzig asymmetrische Konfrontation ist – Fahnen und Steine gegen scharfe Munition? Ist ein solches Blutopfer es wert?
Seit der letzten wirklichen Intifada ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Und obwohl es seither sporadische Demonstrationen im Gazastreifen gegeben hat, muss ein weiterer Bürgeraufstand gegen Israel erst noch stattfinden. Zumindest bis jetzt.
Obwohl die erste Intifada 1987 in Gaza Stadt ausbrach, führte Israels Abzug seiner Siedler aus dem Gazastreifen 2005 und die sich anschließende Blockade zwei Jahre später effektiv zur Isolation der Bevölkerung. Die Palästinenser in der Westbank begegnen Israelis täglich – vor allem im umkämpften Jerusalem –, während die Bewohner Gazas sie nur aus der Ferne sehen, hinter Geschützen auf Wachtürmen (oder in Panzern bei Angriffen). Der einzige Kontakt waren die drei Kriege – 2008/9, 2012 und 2014 – die zwischen Gazas kleinen Widerstandskräften und Israels massiver Militärmaschinerie ausbrachen.
Der Funke für einen neuen Massenaufstand wurde im Dezember entzündet, als US-Präsident Donald Trump seine Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels erklärte. Gaza-Bewohner aller Altersgruppen strömten zu regelmäßigen Protesten am Freitag. Kurz darauf erschossen israelische Soldaten Ibrahim Abu Thuraya, einen 29-jährigen Doppelamputierten, bei einem der folgenden Proteste – und fachte die schwelende Glut zu störrischen Flammen an.
Dann kam der Große Rückkehrmarsch, der am Tag des Bodens am 30. März startete. Sein Modell des Widerstands spiegelt die früheren Intifadas – Banner, Flaggen, Steine und ein gelegentlicher Molotowcocktail gegen schwere Waffen – wider, gewinnt aber den Wettbewerb um öffentliche Sympathie. Die Palästinenser, die diesmal teilnehmen, repräsentieren die neue Generation Palästinas. Sie sind die Nachkommen von Hunderttausenden Palästinensern, die 1948 in der Nakba (Gründung Israels) ihre Häuser verlassen mussten und nun als Flüchtlinge leben.
Die neue palästinensische Generation in Gaza wuchs mit den Gräueltaten der Besatzung auf; sie wurde „normalisiert“ auf das Leben in einem Freiluftgefängnis, das von der Außenwelt abgeschirmt ist – ausgeschlossen vom Zutritt zur Außenwelt über Land, See und Luft. Eine Folge der Blockade ist es, dass Gazas Jugendliche nie ihre Landsleute in der Westbank treffen, geschweige denn ihren begehrtesten Ort, Jerusalem, besuchen konnten. Sie sind gezwungen, sich mit Fotos und Fernsehen zufrieden zu geben. Was ihre angestammte Heimat betrifft, hören sie Geschichten, die ihnen ihre Großeltern erzählen.
Warum der Große Marsch der Rückkehr?
Das bedeutet jedoch nicht, dass sie diese Realität akzeptieren. Wie das Sprichwort sagt: „Die Alten mögen sterben, aber die Jungen werden nie vergessen.“ Groll ist präsent und brodelt, während die Verhandlungen zwischen Weltführern (ohne ihre Stimme) endlos weiterdröhnen, aber kein Ergebnis produzieren. Trumps Anerkennung Jerusalems als Israels Hauptstadt war ein weiterer Stich ins Herz der palästinensischen Sache, gerichtet gegen das zentrale und heikelste Thema für Palästinenser, die Ost-Jerusalem als die Hauptstadt des zukünftigen Staates betrachten.
Die heilige Stadt Jerusalem stellte lange eine rote Linie für die arabische und muslimische Welt dar. Sie war der Funke für die zweite Intifada im Jahr 2000, ausgelöst durch Ariel Sharons politischem Trick, dem Besuch in der al-Aqsa-Moschee. Als Israel im Jahr 2017 Metalldetektoren, Kameras und Eisentore in der Moschee installierte, kam es erneut zu Unruhen – selbst in Gaza.
Trump heizte die Flammen weiter an und bestrafte die Palästinenser für ihren Widerstand gegen seine Anerkennung des israelischen Anspruchs auf Jerusalem, indem er die finanzielle Unterstützung für UNRWA, dem UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser, zurückhielt. Trotzig kündigte er an, die US-Botschaft werde am 14. Mai (nur einen Tag vor dem 70. Jahrestag der Nakba) von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt.
Zum ersten Mal seit Jahren kommt das Phänomen der Wutproteste in Gaza wieder auf. Da ist die Wut über US-Aktionen. Aber dazu gesellt sich, dass Gaza in einen durch die Blockade hervorgerufenen Schraubstock eingespannt wird: hohe Arbeitslosigkeit, extreme Stromknappheit und ein kaputtes Wasser- und Abfallbehandlungssystem – um nur ein paar der Gründe zu nennen, warum die Vereinten Nationen vorhersagten, dass der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sein wird. Die Frustration auf den Straßen Palästinas wird durch eine lang anhaltende und erbitterte Spaltung zwischen den beiden herrschenden politischen Parteien noch verstärkt.
Der sechswöchige Protest, der am 30. März begann, soll bis zum 15. Mai dauern. An fünf Orten in der Nähe der Grenze von Gaza zu Israel gibt es Zeltlager: Beit Hanoun, zwei Standorte in Gaza-Stadt, Khan Younis und Rafah. Mehrere Tausend Demonstranten leben die ganze Woche in den Zelten, und jeden Freitag kommen bis zu 250.000 Menschen in die Lager und wagen sich so nahe wie möglich an die Grenze, ohne von Scharfschützen niedergeschossen zu werden. Trotz gegenteiliger Behauptungen der Israelis und der Medien nehmen die verschiedenen politischen Gruppierungen zwar teil, aber üben keine Kontrolle aus. Keine Parteiflaggen oder Banner sind erlaubt, und die Mobilisierung außerhalb des Marsches konzentriert sich auf Aktivitäten wie das Pflanzen von Olivenbäumen, Lesen und das Hören von Geschichten der Älteren.
Ibrahim Hasna, 22 und arbeitslos, ist ein typischer Vertreter. Er sagt, seine düsteren Aussichten, die er in erster Linie auf die israelische Blockade zurückführt, sind es, die ihn dazu bringen, sich trotz des Risikos zu beteiligen.
„Wir begannen unseren Tag damit, friedlich und entfernt von der Grenze beieinander zu stehen“, erinnerte sich Ahmed am den ersten Tag. „Aber das Ausmaß der Gewalt, das wir von den israelischen Streitkräften sahen, provozierte uns, und wir näherten uns bis auf ein paar Kilometer dem Zaun. Ich wollte die palästinensische Flagge vor ihren Augen aufstellen, um ihnen zu zeigen, dass wir keine Angst haben.
„Als sie das Feuer eröffneten, kauerten wir uns auf den Boden, bis das Tränengas uns zu ersticken drohte und wir gezwungen waren, aufzustehen und zu laufen. Sobald wir zu Laufen begannen, wurde mein Kamerad in den Rücken und mir wurde in den Oberschenkel geschossen,“ erzählte er.
Abu Hasna und die anderen lassen sich jedoch nicht abhalten. Die palästinensische Jugend hat nichts zu verlieren: Entweder riskiert sie ihr Leben bei Demonstrationen oder stirbt jeden Tag einen langsamen Tod in Gaza. Einige beginnen zu denken: „Wenn die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich wird, dann können wir auch getrost das gesamte Land beanspruchen.“ Man muss sich fragen: Begreift Israel, welchen Sturm es ernten wird, wenn es palästinensische Jugendliche aller Hoffnung beraubt?
Der 15. Mai, der mit dem ersten Tag des Ramadan – dem islamischen heiligen Monat des Fastens – zusammenfällt, entwickelt sich zu einem Pulverfass. Die Aussicht auf eine dritte Intifada ist groß.
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Fadi O. Al-Naji, 23, hat einen Abschluss in englischer Sprache und Literatur von der Al-Azhar-Universität in Gaza und schreibt regelmäßig für die internationale Organisation We Are Not Numbers in Gaza. Der vorliegende Beitrag erschien dort zuerst im Original auf Englisch. Die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und We Are Not Numbers.