(PN) 25.10.2018 – Die von der Fatah geführte Palästinensische Autonomiebehörde in der Westbank und die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner. Diesen Vorwurf erhebt Human Rights Watch in einem soeben veröffentlichten Bericht. Da sich der Konflikt zwischen der Fatah und der Hamas verschärft hat, hätten beide Parteien die Unterstützer der jeweils anderen ins Visier genommen.

Der 149-seitige Bericht „Two Authorities, One Way, Zero Dissent’: Arbitrary Arrest and Torture Under the Palestinian Authority and Hamas“ untersucht wiederkehrende Muster bei Festnahmen und Haftbedingungen in der Westbank und im Gazastreifen, 25 Jahre nachdem das Oslo-Abkommen den Palästinensern eine gewisse Selbstbestimmung über diese Gebiete eingeräumt und mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Hamas de facto die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hat.
Human Rights Watch schildert mehr als zwei Dutzend Fälle von Menschen, die festgenommen und inhaftiert wurden, nur weil sie einen kritischen Artikel oder Facebook-Post verfasst hatten oder der falschen Studentengruppe oder politischen Bewegung angehörten.
„25 Jahre nach Oslo haben die palästinensischen Behörden nur begrenzte Macht in der Westbank und im Gazastreifen erlangt, dennoch haben sie dort, wo sie autonom sind, parallele Polizeistaaten aufgebaut“, so Tom Porteous, stellvertretender Programmdirektor bei Human Rights Watch. „Aufrufe von palästinensischen Vertretern, die Rechte von Palästinensern zu schützen, klingen hohl, wenn gleichzeitig jegliche Kritik zerschlagen wird.“
Human Rights Watch führte Interviews mit 147 Zeugen, darunter ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen, Anwälte und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Zudem wertete Human Rights Watch Fotomaterial aus und prüfte medizinische Berichte und Gerichtsdokumente. Nach Feststellung von Human Rights Watch wurden nur wenige Sicherheitsbeamte strafrechtlich verfolgt und keiner wurde wegen unrechtmäßiger Verhaftung oder Folter verurteilt.
„Dass Israel systematisch die Grundrechte der Palästinenser verletzt, ist kein Grund dafür, zu schweigen angesichts der systematischen Unterdrückung von Dissens und der Folter durch palästinensische Sicherheitskräfte“, so Shawan Jabarin, Vorsitzender der palästinensischen Menschenrechtsorganisation al-Haq und Mitglied des Advisory Boards von Human Rights Watch für den Nahen Osten und Nordafrika.
Willkürliche Festnahmen – Haft ohne Anklage – Folter
Beide Seiten – Fatah und Hamas – beharren darauf, dass es sich bei Menschenrechtsverletzungen lediglich um Einzelfälle handelt, die untersucht werden und für die die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Belege, die Human Rights Watch gesammelt hat, widersprechen jedoch diesen Behauptungen.
So berufen sich die palästinensischen Behörden häufig auf sehr weit gefasste Gesetze, wonach die Beleidigung „höherer Autoritäten“ unter Strafe steht, wenn diese zu „konfessionellen Unruhen“ führt oder „der revolutionären Einheit schadet“, um Dissidenten tage- oder wochenlang festzuhalten. Die meisten werden dann wieder freigelassen, ohne dass sie vor Gericht gestellt werden, doch die Anklagepunkte bleiben weiter erhalten.
Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde hielten zudem 221 Palästinenser über diverse Zeiträume zwischen Januar 2017 und August 2018 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf Anordnung eines Regionalgouverneurs in Verwaltungshaft, so die palästinensische Überwachungsbehörde Independent Commission for Human Rights.
Eine Reihe ehemaliger Gefangener der Palästinensischen Autonomiebehörde, die von Human Rights Watch befragt wurden, waren auch von Israel festgenommen worden, das sich mit den Sicherheitskräften der Palästinensischen Autonomiebehörde in Sicherheitsfragen abstimmt.
In Gaza verlangen die Hamas-Behörden bisweilen von Häftlingen, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der sie sich verpflichten, jegliche Kritik oder Proteste einzustellen.
Am 27. September berichtete die Unabhängige Menschenrechtskommission, dass Sicherheitskräfte der Hamas in Gaza mehr als 50 mit der Fatah verbundene Personen verhaftet hatten und dass Beamte der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank innerhalb weniger Tage mehr als 60 mit der Hamas verbundene Personen festgenommen hatten.
In den dokumentierten Fällen wurden die Gefangenen von palästinensischen Sicherheitskräften bedroht und geschlagen. Zudem wurden sie gezwungen, über längere Zeiträume in schmerzhaften Positionen zu verharren. Hierfür wurden u.a. Kabel oder Stricke verwendet, um die Arme der Gefangenen hinter dem Rücken hochzuheben und zu fixieren.
Die Sicherheitskräfte zwangen die Gefangenen auch routinemäßig dazu, ihnen Zugang zu ihren Mobiltelefonen und Social Media Accounts zu gewähren. Diese Maßnahmen, so Human Rights Watch, scheinen darauf abzielen, Dissidenten zu bestrafen und sie und andere von weiteren Aktivitäten abzuhalten.
„Systematische Folter“
Human Rights Watch spricht von systematischen Folterungen durch palästinensische Sicherheitskräfte, die vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag als strafbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden könnten. Schon seit längerem ermutigt Human Rights Watch die Chefanklägerin des IStGH, eine formelle Untersuchung des israelischen und palästinensischen Verhaltens in Palästina einzuleiten.
Die USA und die EU unterstützen finanziell die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde. Katar, Iran und die Türkei unterstützen finanziell die Hamas-Behörden. Human Rights Watch appelliert an diese Länder, ihre Unterstützung so lange auszusetzen, wie systematische Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen andauern.
„Die Angriffe der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas gegen Dissidenten und Demonstranten, Reporter und Blogger haben System und niemand wird für sie zur Rechenschaft gezogen“, so Porteous. „Wenn Regierungen dem palästinensischen Volk beim Aufbau eines Rechtsstaates helfen wollen, dann sollten sie keine Sicherheitskräfte unterstützen, die einen Rechtsstaat aktiv untergraben.“
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